Auf dem Weg zur Psychotherapie?

„Früher“ war es wohl so: Zu Psychiater*in, Psycholog*in oder gar auch Psychotherapeut*in (by the way: Wer kennt den Unterschied zwischen diesen Berufsgruppen? 😉) ging man nicht. Außer man lief vielleicht nackt unter Tags im Garten herum oder hatte einen Suizidversuch hinter sich … - dann wurde man zwangsweise „hingeschickt“. Es war wohl mehr „eine Schande“ Psychotherapie in Anspruch zu nehmen, über Probleme wurde eher wenig gesprochen. 😳

 

Und heute?

Die Werbemaschinerie läuft. Gerade in Zeiten der Pandemie wird mehr über psychische Erkrankungen gesprochen, die Kassenplätze für Psychotherapie sollen ausgebaut werden. Aber wie sieht es mit den alten Vorurteilen (in uns) aus? Ist es heute wirklich einfacher Hilfe aufzusuchen?

Irgendwann zu Beginn oder im Laufe von Therapien höre ich in meiner Praxis oft Sätze wie:

 

Ich komme mit meinen Problemen alleine nicht zurecht

Ich bin nicht normal

Mit mir stimmt etwas nicht

Ich bin deppert

Ich bin verrückt

Ich bin falsch

Ich müsste das alleine schaffen

Ich muss funktionieren

Ich hab immer alles alleine geschafft

Ich bin schwach

Ich bin schlecht

Ich bin einfach anders 

Nur ich habe Probleme usw.

(… wenn ich in Psychotherapie gehe oder Hilfe in Anspruch nehme …)

 

 

Kennst du diese Gedanken? Wenn du solche oder ähnliche Gedanken hast oder hattest- wie fühlst du dich dann? Ist es dann leichter oder schwerer Hilfe in Anspruch zu nehmen? Führt es dich mehr dazu, dich zurückzuziehen und dich mehr mit anderen (z.B. auf Social Media) zu vergleichen?

 

Wenn wir so über uns denken, fühlen wir uns meist unzulänglich, ausgegrenzt. Es kann dazu führen, dass wir weniger mit anderen sprechen und uns mehr zurückziehen. Es lässt uns vielleicht mehr darüber nachdenken, was alles an uns „nicht passt“- es bestätigt unsere Zweifel. Oder manchmal macht es uns einfach „grundlos“ furchtbar wütend und wir haben dann öfter Streit mit anderen. Eigentlich aber, ganz tief in uns, tut das weh und wir schämen uns, haben Angst, nicht zu genügen, nicht dazu zu gehören, beurteilt, verurteilt zu werden. Oft vermeiden wir dann diese Gefühle, denn gerade Gefühle wie Scham und Angst sind uns oft nicht klar bewusst, sie werden gern verdrängt, indem wir uns z.B. auch Ausreden suchen: Therapie?! Keine Zeit, kein Geld, zu weit weg, bringt sowieso nix,... – usw. 

 

Und gerade in Zeiten von Social Media und gleichzeitig Social Distancing sind wir mehr mit einer „nicht-realen Realität“ konfrontiert- einer virtuellen und visuell-fixierten Realität mit wenig(er) wirklichem menschlichen Kontakt. Als Teil der Leistungsgesellschaft glauben wir auch, wir müssten uns immer mehr optimieren, perfektionieren, wachsen und anpassen. Diese Gesellschaft zeigt uns dauerhaft Bilder von schönen, jungen, perfekten Menschen in Werbung und sozialen Medien. Diese Gesellschaft kommuniziert überwiegend digital 💻 (Hallo Whatsapp, Signal, Telegram!) und über visuelle Reize 👀 – Fotos und Bilder (Hallo Instagram, Tinder, Facebook!). Und wir glauben diese Bilder und Worte, verinnerlichen sie und definieren uns mehr darüber. Wir vergleichen uns ständig. Wir bewerten mehr. Wir werten uns und unsere Fehlerhaftigkeit mit der Zeit mehr und mehr ab. Und wir fühlen uns noch unzulänglicher. 😰

 

Vielleicht können wir damit auch eine Zeit lang umgehen, so lange zumindest, bis irgendwann nichts mehr geht - dann, wenn das Burnout, die Depression, die Angststörung, die Essstörung oder psychosomatische Beschwerden an unsere Tür klopfen oder sonstige Diagnosen gestellt werden. Spätestens dann müssen wir uns eingestehen: „ich muss… - etwas ändern/ etwas tun/ Hilfe in Anspruch nehmen“. Leider liegt hier auch ein Teil des Problems: erst dann, wenn ich „etwas ändern muss“, bestätige ich mich noch mehr in meinem destruktiven Selbstbild. Denke noch mehr über mich, ich sei „nicht normal“. Fühle mich noch schlechter. Schäme mich noch mehr. Habe noch mehr Angst. Hmmmm,…- und jetzt?

 

Ich persönlich denke, es würde viele Leidenswege etwas ersparen oder erleichtern, wenn wir nicht immer alles sofort glauben würden, was wir sehen. Unsere Augen sind nur ein Teil unserer Sinne. Indem wir Bilder (im TV oder sozialen Medien, Zeitschriften) TATSÄCHLICH kritischer hinterfragen könnten, uns vielleicht manchmal auch besser vor einer Überflutung schützen könnten. 

 

Am meisten aber glaube ich, es könnte vielen Menschen unheimlich helfen, wenn wir alle – die Gesellschaft – endlich lernen könnten, dass Psychotherapie vor allem dann besonders hilfreich ist, wenn sie frühzeitig oder vielleicht sogar präventiv in Anspruch genommen wird. Psychotherapie als Psychohygiene. Psychotherapie als Entwicklungschance. Psychotherapie als Reflexion. Psychotherapie als Erkenntnis. Psychotherapie als Selbstverständnis. Psychotherapie als Möglichkeit wirklich und wahrhaftig „bei mir selbst anzukommen“. Therapie in Anspruch zu nehmen ist kein Zeichen von Schwäche- im Gegenteil! Es zeigt von Stärke, sich seinen Themen zu stellen!

 

In diesem Sinne haben wir alle Probleme! Ich nenne diese Probleme immer lieber Herausforderungen. In diesem Sinne sind wir alle verrückt oder auch irgendwie dann alle wieder gleich normal. Irgendwie sind wir dann alle gleich und gleichzeitig sehr unterschiedlich. Und das ist doch gut so, oder?

 

PS. Alle Psychotherapeut*innen durchlaufen übrigens während ihrer Ausbildung eine jahrelange Eigentherapie. Auch ich 🤗.


Anmerkung:

Übrigens ist Psychotherapie kein „Hokus-Pokus“ oder "nur so Reden" (das könntest du auch mit deinen Freund*innen) sondern ein wissenschaftlich fundiertes und anerkanntes Behandlungsverfahren:

 

„Die Ausübung der Psychotherapie im Sinne dieses Bundesgesetzes ist die nach einer allgemeinen und besonderen Ausbildung erlernte, umfassende, bewusste und geplante Behandlung von psychosozial oder auch psychosomatisch bedingtenVerhaltensstörungen und Leidenszuständen mit wissenschaftlich-psychotherapeutischen Methoden in einer Interaktion zwischen einem oder mehreren Behandelten und einem oder mehreren Psychotherapeuten mit dem Ziel, bestehende Symptome zu mildern oder zu beseitigen, gestörte Verhaltensweisen und Einstellungen zu ändern und die Reifung, Entwicklung und Gesundheit des Behandelten zu fördern.“  

 

Psychotherapiegesetz, Artikel I, § 1 (1)